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Christine de Pizan: Die Feministin des Mittelalters
Aus Kontext vom 03.05.2024. Bild: Imago/Heritage Images
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Feministin Christine de Pizan Sie schrieb die erste Abrechnung mit toxischer Männlichkeit

Christine de Pizan entwarf bereits 1404 eine Utopie, in der Frauen Männern gleichgestellt waren. Damals war sie damit eine absolute Ausnahmeerscheinung. Heute ist ihr Werk als Klassiker der mittelalterlichen französischen Literatur hochgepriesen. Wer war die frühe Feministin?

«Eigentlich ist es nicht möglich, dass in dieser Zeit schon diese Dinge gesagt und geschrieben wurden – dass so eine Existenz möglich war.» Das sagt die emeritierte Romanistikprofessorin Margarete Zimmermann über die Schrifstellerin Christine de Pizan. Sie hat ihr berühmtestes Werk ins Deutsche übersetzt: «Das Buch von der Stadt der Frauen». Eine feministische Utopie, geschrieben in den Jahren 1404/05.

Darin spricht sich Christine de Pizan dezidiert gegen die Frauenfeindlichkeit ihrer Zeit aus und verlangt, dass Frauen Zugang zu Bildung haben müssen. Sie verurteilt Vergewaltigungen aufs Schärfste. Und: Sie macht deutlich, dass Frauen Männern ebenbürtig sind.

Eine Frau im Mittelalter als Literatur-Star?

Solche Gedanken sind für die damalige Zeit revolutionär. Trotzdem feiert Christine de Pizan als Schriftstellerin schon bald Erfolge: Der europäische Hochadel liest ihre Werke. «Im Jahr 1405 ist sie in diesen Kreisen ein Star», sagt ihre Biografin Margarete Zimmermann.

Historische Illustration einer Frau im 18. Jahrhundert, die an einem Schreibtisch mit einer Feder schreibt
Legende: Schriftstellerin und Philosophin Christine de Pizan bei ihrer Lieblingsarbeit: dem Schreiben. Der Kupferstich von ihr entstand im 19. Jahrhundert. IMAGO / Kena Images

Christine de Pizan wird 1364 in Venedig als Tochter italienischer Landadeliger geboren. Ihr Vater arbeitet als Arzt und Astrologe am Pariser Hof für den französischen König Charles V. Dort wächst Christine auf. Vermutlich hat sie als Kind und Jugendliche auch Zugang zur königlichen Bibliothek – einer der grössten Bibliotheken Europas.

Wie die meisten adeligen Frauen kann sie lesen. Eine umfassende Bildung jedoch erhält sie nicht – sehr zu ihrem Missfallen. Später wird sie sich selbst all das beibringen, was man als Autorin braucht: Sie ackert historische und philosophische Werke durch, liest Romane und Gedichte. Ihr Ziel steht fest: Sie will Schriftstellerin werden.

Eine Kämpferin für Witwen, Waisen und Arme

Ihr Wunsch entsteht aus der Not. Bis sie etwa 15 Jahre alt ist, lebt Christine de Pizan in privilegierten Verhältnissen. Sie heiratet und bekommt drei Kinder. Doch dann stirbt König Charles V. 1380 überraschend, Frankreich stürzt in eine politische Krise.

Somit verschlechtert sich auch Christine de Pizans Situation: Innerhalb von zehn Jahren verliert sie erst ihren Vater, dann ihren Ehemann. Sie ist jetzt allein mit drei Kindern. Ausserdem muss sie sich um ihre Mutter und andere Verwandte kümmern.

Mittelalterliche Illustration einer Adeligen Gesellschaft in einem prachtvollen Raum mit reicher Dekoration.
Legende: Christine de Pizan präsentiert ihr Buch der Königin Isabeau von Bayern. Gemalt wurde diese Illustration vom Meister der Cité des Dames zwischen 1410 und 1414. IMAGO / United Archives

Andere würden in dieser Situation so schnell wie möglich wieder heiraten – so wie es damals von Witwen erwartet wird. Nicht so Christine de Pizan. Sie will unabhängig bleiben und sucht sich eine Gönnerin – niemand geringeren als die französische Königin Isabeau von Bayern.

Ihr überreicht sie 1399 einen ersten Gedichtzyklus. Schon in diesen Gedichten wird sie deutlich: An einigen Stellen kritisiert sie, dass sich der Adel zu wenig um die Schutzbedürftigen der Gesellschaft kümmere – also um Witwen, Waisen und Arme.

Eine Frau erklärt Männern, wie sie sich verhalten sollen

Das ist mutig. Schliesslich ist sie auf diese adeligen Gönner angewiesen. Denn: Es gibt noch keinen Buchdruck. Geld verdienen kann sie als Autorin nur, indem sie finanzielle Zuwendungen von reichen Mäzenen bekommt.

Mittelalterliche Illustration mit vier gekrönten Frauen in einem Raum und einer Szene im Freien.
Legende: Frauen überall: Abbildung aus de Pizans berühmtesten Buch «Das Buch von der Stadt der Frauen». IMAGO / Heritage Images

Geschickt knüpft Christine de Pizan ein Netzwerk aus Gönnerinnen und Mäzenen. Sie schreibt einen Leitfaden für junge Ritter. Damit beschreibt zum ersten Mal eine Frau, wie Männer sich tugendhaft und klug verhalten sollen. Ausserdem verfasst sie ein Tugendbuch für Frauen, verschiedene politische Werke und eine Biografie über König Charles V. Christine de Pizans berühmtestes Buch aber, heute und zu ihren Lebzeiten, ist «Das Buch von der Stadt der Frauen».

Frauen werden als «Huren» und «Misthaufen» beschimpft

Sie schreibt dieses «Mutmach-Buch» für Frauen von 1404 bis 1405. Ihr Ziel: ein literarisches Bollwerk gegen den Frauenhass zu bauen respektive zu schreiben. Einige mittelalterliche Schriften strotzen nur so vor frauenfeindlichen Passagen. Zum Beispiel der damals populäre «Rosenroman», den zwei Kleriker verfasst haben.

Darin werden Frauen unter anderem als «Huren» und «Misthaufen» beschimpft. Und so fragt sich Christine de Pizan, «welches der Grund […] dafür sein könnte, dass so viele und so verschiedene Männer, ganz gleich welchen Bildungsgrades, dazu neigten und noch immer neigen, in ihren […] Schriften derartig viel teuflische Widerwärtigkeiten über Frauen und ihre Lebensweisen zu verbreiten.»

Mittelalterliches Gemälde einer Frau, die an einem Pult ein Buch liest, umgeben von vier Zuhörern.
Legende: Christine de Pizan liest vor einer Männergruppe: Vielleicht, um sie davon zu überzeugen, dass Frauen genauso gut dichten können wie Männer? Gemeinfrei

Gegen diese «teuflischen Widerwärtigkeiten» schreibt sie an. Sie berichtet von berühmten Herrscherinnen, Erfinderinnen und Philosophinnen. Sie macht klar, was Frauen alles erreichen können. Und: Sie verlangt, dass Frauen respektiert werden.

Ihr berühmtestes Buch wäre fast in Vergessenheit geraten

Ihr «Buch von der Stadt der Frauen» liegt lange nur als Handschrift vor. Deshalb gerät es irgendwann fast in Vergessenheit. Wiederentdeckt wird es erst in den 1970er-Jahren: Damals machen sich zwei Romanistinnen in Hamburg und den USA ungefähr gleichzeitig daran, Christine de Pizans Manuskript zu transkribieren.

Mittelalterliches Manuskript mit einer Illustration einer lesenden Figur und verzierten Textseiten.
Legende: Endlich wiederentdeckt und zugänglich gemacht: die Manuskripte von de Pizan. IMAGO / KHARBINE-TAPABOR

In den 1980er- und 1990er-Jahren wird das Buch dann in verschiedene Sprachen übersetzt. Feministinnen in aller Welt sind damals begeistert über die mittelalterliche Vorkämpferin für die Frauenrechte. Und so entdeckt man auch viele andere Werke von Christine de Pizan wieder. Ihr Œuvre ist gewaltig: Insgesamt umfasse es 3000 bis 4000 Druckseiten, schätzt Romanistin Margarete Zimmermann.

Eine Klassikerin französischer Literatur

Heute ist Christine de Pizan in Frankreich als Klassikerin der mittelalterlichen Literatur anerkannt. Seit 2011 sind ihre Werke dort Stoff von Abiturprüfungen, seit 2017 auch von Hochschulprüfungen. Nur eines fehlt noch: In der berühmten französischen Klassikeredition «La Pléiade» ist noch kein einziges ihrer Werke erschienen.

Christine de Pizan stirbt um 1430, vermutlich in einem Dominikanerinnenkloster. Kurz zuvor schreibt sie die erste Lobeshymne auf Jeanne d’Arc. Besonders schön an diesem Gedicht ist sein Schluss: «Hier endet ein wunderschönes Gedicht, verfasst von Christine.»

Margarete Zimmermann

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Legende: Margarete Zimmermann

Margarete Zimmermann ist emeritierte Romanistikprofessorin. Sie lehrte als Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft unter anderem an der Freien Universität Berlin und am Frankreich-Zentrum der Technischen Universität Berlin. Von 2008 bis 2014 war sie Direktorin des Frankreich-Zentrums der FU Berlin. 2009 rief sie mit dem Observatoire de l'extrême contemporain ein Zentrum für die Erforschung und Vermittlung frankophoner Gegenwartsliteratur ins Leben.

Margarete Zimmermann hat unter anderem eine Biografie über Christine de Pizan geschrieben. Ausserdem hat sie ihr berühmtestes Werk, «Das Buch von der Stadt der Frauen» (erschienen im Aviva Verlag) auf Deutsch übersetzt und herausgegeben.

Von allen deutschen Zitaten aus Christine de Pizans Werken in diesem Artikel ist Margarete Zimmermann die Urheberin.

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Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 3.5.2024, 6:05 Uhr

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